An einem Sonntag beschließt Günther Freitag, sein treues Klavier in den Keller zu stellen. Er müsse ein anderer Autor werden, sagt er sich, ein anderer Mensch womöglich, endlich den Lehrkörper verlassen, dann Weib und Zwillinge, ein ganz ein wilder Dichter sein, kein Hausmusiker!
Und fürs erste begibt er sich zu seiner bürgerlichsoliden Hausbar und schenkt sich, um seinen Entschluss, dem es an Tragweite nicht mangelt, gebührend zu begießen, einen mehrstöckigen Metaxa ein. Nein, gleich aus der Flasche in den Hals! Das ist anarchischer…
Wahnsinn sei fürs Alltagsleben von Nachteil, für die Kunst jedoch ein unschätzbarer Vorteil. Von nun an werde er nicht nur seine Figuren einen fortschreitenden Realitätsverlust erleiden lassen, sondern selbst verrückt werden, und zwar sofort, auf der Stelle! Aber vorher noch seinen Flügel, ein Erbstück, in den Keller seines Hauses verbannen. Das Klavier habe ihn dazu gezwungen, auch an der Schreibmaschine Melodiebögen zu komponieren, eigentlich habe er bislang gar nicht geschrieben, sondern gesungen, seine Texte seien Variationen zu Themen von Schubert, Schumann und Chopin, Liederbücher seien seine Romane, man könne sie vom Blatt spielen, Kopfmusik, die nicht jeder zu hören imstande sei, Sätze für Klangaugen, die nicht jeder riechen könne.
Schlussakkord! Keine Synästhesien mehr! Um ein so bedeutender Schriftsteller wie sein Freund Walter Grond zu werden, müsse er erst einmal das Stammeln erlernen, das Singen vergessen, alle Triller und sein ganzes Können unterdrücken, am besten zum Stümper werden. Ächzend schiebt Günther Freitag den unhandlichen Flügel zur Wohnzimmertür hinaus. Leider stößt das Instrument mit Freitags Ehefrau zusammen.
Was er denn mit dem tönenden Möbelstück vorhabe, will die Gefährtin seiner schlaflosen Nächte wissen, ob er vielleicht einen Spaziergang damit machen wolle. Der Dichter murmelt Entschuldigungsformeln. Da wittert seine Frau seine Fahne. Er habe schon vormittags die Ausdünstung eines Schwarzbrenners, herrscht sie ihn an, er werde noch so enden wie manch einer seiner Vorgänger.
Schlimm genug, dass sich ehemalige Fußballer in Freitags Büchern fälschlicherweise wiedererkennen und deshalb gleich Ehrenbeleidigungsprozesse gegen ihn anstrengen, auch der engste Familienkreis bringt seinen Befreiungsversuchen kein Verständnis entgegen. Seine Gattin ist der Meinung, freischaffend könne er doch ohnehin zukünftig in seiner Pension sein, die paar Jahrzehnte müsse er sich eben noch gedulden.
Er werde alles hinter sich lassen müssen, denkt Freitag, auch sein Selbst, erst wenn er alle Zuschreibungen, die man mit seiner Person verbinde, ausgelöscht habe wie eine Computerdatei, werde er so etwas wie Eigenart entwickeln können, wenn ihn keiner – auch nicht seine Frau – mehr identifizieren werde können, dann werde er unverwechselbar sein. Jeder Vergleich wäre dann unzulässig, auch mit Gert Jonke oder Gert Hofmann oder einem anderen Gert, selbst mit Günther Freitag würde man ihn nicht mehr vergleichen, denn in seinem ureigenen Interesse hätte er Freitag durch einen anderen ersetzt. Es gehe also darum, jenen „Freitag“ von sich abzuspalten. Freiheit sei ein Freisein von sich selbst. In dieser Woche werde er den Freitag ausfallen lassen.
Das Klavier ist ein untaugliches Fortbewegungsmittel, es rührt sich kaum von der Stelle. Vielleicht sollte er es einfach die Treppe hinunterstossen – als barbarisches Initiationsritual! Aber eine Etüde wenigstens könnte er doch vorher noch in die Tasten…
Nein! In den Keller zu den Kohlen! Huckepack kann er es schwerlich tragen. Am einfachsten wird es wohl sein, den Flügel zu zerhacken und hernach die Einzelteile zu transportieren…
Die Axt im Haus erspart den Klavierspediteur! Mit zerstörerischen Wunschvorstellungen im Kopf lehnt er sich an sein Instrument, das ihn lange genug gefoltert und in seiner Entwicklung als Künstler gehemmt hat. Da stürmen seine Zwillingssöhne herbei. Mit Indianergeheul fallen sie hemmungslos über ihren Vater her und fesseln ihn mit einem Wäschestrick ans Klavier, Dann malen sie ihm noch ein paar obszöne Symbole auf Stirn und Wangen. Mit dem Versprechen, ihm nach Sonnenuntergang die Eingeweide aus dem bleichen Leib zu schneiden, stieben sie johlend davon.
Bewegungsunfähig träumt Freitag in seinen Fesseln von einer zügellosen Dichterexistenz. Leoben wird er auf schnellstem Weg verlassen, vielleicht zieht er nach Trofaiach. Ausschweifungen, poetische und erotische Ausschweifungen, Trofaiacher Exzesse malt er sich aus. Seine Dichtungen wird er in Wirtshaustische ritzen, mit billigem Lippenstift Epigramme auf fette Kellnerinnenschenkel schmieren, zur Sperrstunde Ordnungshüter ohrfeigen, vorwiegend in Ausnüchterungszellen übernachten.
Stunden später befreit ihn seine Frau. Geknebelt hat man ihn nicht, aber um Hilfe hat er trotzdem nicht gerufen. Verdrossen löffelt er die gute Suppe. Morgen ist Montag. Um acht fängt die Schule wieder an.
(Der Doppelgänger des Verwandlungskünstlers. Satirische Dichterportraits. Graz: 1994.)